ThRe Tipp:

Über Nationalismus

George Orwell, dtv Verlag München, 2020
ISBN: 978-3-423-14737-8

Heiß und feucht war es immer noch, obwohl die Sonne schon vor Stunden untergegangen war. Die Straßen voll mit Menschen die der schwülen Enge ihrer Behausungen entfliehen wollten, der Verkehrslärm ungebrochen präsent. Folgetonhörner. Blaulicht. Eine Ratte quert den Platz, sucht Deckung hinter parkenden Autos. Er saß regungslos, schon seit langer Zeit, betrachtete das Treiben, fasste Gedanken und vergaß sie wieder, sah unverhohlen in fremde Gesichter ohne Absicht oder Verlangen Bekanntschaft mit ihnen zu schließen. Große, Kleine, Dicke, Dünne, alle schwitzend tastete er mit seinen Augen ab, maß ihre Schritte, ließ er ziehen, folgte keinem länger als sie sein Blickfeld berührten. Die Sitzmöglichkeiten rings um ihn leerten sich, einzig direkt hinter ihm blieb jemand standhaft, wahrscheinlich in den selben Betrachtungen, nicht bleibenden Gedanken verhaftet.

„Was sehen Sie?“ Unvermittelt eine weibliche Stimme. Er blieb stumm, zu unspezifisch auf den Platz gesprochen waren die wenigen Worte, nicht an seine Ohren gerichtet, nicht für ihn bestimmt. An der Ecke zankten sich Zwei, unbehelligt von vorbei Schlendernden. Zu weit entfernt um wahrnehmen zu können worüber die Meinungsverschiedenheit entbrannt war, einzig die Gestik verriet Aufgeregtheit.

„Was sehen Sie?“

„Nichts.“

„Auf meiner Seite auch Nichts, kein Mensch.“

Der Streit ließ sich schlichten, die Kontrahenten verließen den Platz. Eine Bierdose rollte in seine Richtung, lautlos. Vor ihm auf dem Boden eine Zeitung. Die Headline versprach Gefahr, welcher Art war unkenntlich.

„Stellen Sie sich auch hin und wieder das Meer vor?“

„Ich sehe Gefahr.“

„Das Meer ist auch vom Strand aus sehr schön.“

„Papierene Versprechung.“

„Dann lieber in Gedanken.“

Eine Straßenbahn, vermutlich die letzte des Tages. Rattern. Klingeln. Irgendwo sang eine Gruppe Jugendlicher. Unmelodiös. Viel zu laut, voller Inbrunst.

„Wie sehen sie denn aus?“

„Unbestimmbar, keinerlei Auffälligkeiten.“

„Das dachte ich mir.“

„Ja?“

„Ihre Stimme.“

„Natürlich.“

„Die Stimme erzählt vieles. Ihre sagt mir, dass Sie auf der Suche sind.“

„Sind wir das nicht alle?“

„Nicht so unbestimmt. Waren Sie schon mal am Meer?“

„Das ist schon lange her.“

„Auf meiner Seite noch immer Nichts.“

Ein Hund zog eine ältere Frau hinter sich her, zielstrebig von einem zum anderen Ende des Platzes. Worauf er zu steuerte, was er dort zu erwarten glaubte war nicht klar, trotzdem stürmte er wider jede Vernunft, die beschwichtigenden Worte der Frau ignorierend.

„Der Wind.“

„Aus welcher Richtung?“

„Vom Meer her, daran erinnere ich mich.“

„Lesen Sie viel?“

„Eine sanfte Brise, man vergisst wie stark die Sonne ist.“

„Haben Sie heute ihr Horoskop gelesen? Meines hat mir für heute einen erfolgreichen Tag versprochen.“

„Die Zeitungen schreiben von Abkühlung in den nächsten Tagen.“

„Ich bin Steinbock, Aszendent Jungfrau.“

Der Platz nun menschenleer, der Autoverkehr merklich weniger, selbst die Folgetonhörner erklangen nur noch selten.

„Was sehen Sie?“

„Einen Menschen verlassenen Platz, still ohne Bewegung wie eine Fotografie.“

„Auf meiner Seite Nichts.“

„Vergangen, festgehalten von einem Einzelnen. Flüchtige Ruhe.“

„Möglich wäre auch der Fotograf hat alle hinter sich versammelt um die Fotografie zu machen.“

„Aus dem Rahmen gedrängt.“

„So wie ich in ihrem Bild und Sie in meinem.“

„Randerscheinungen, so wie am Meer.“

„So wie am Meer.“

Straßenkehrer tauchen aus einer Seitengasse auf und beginnen den Platz zu säubern, arbeiten sich von einem Mistkübel zum nächsten vor. Scherzend, erfreut über die wetterlich hervorragenden Arbeitsbedingungen. Er hatte sich noch nicht vom Fleck gerührt, würde er aber müssen wenn das Aufräumkommando die Gefahr verkündende Zeitung aus dem Stadtbild entfernen wollte. Es war nicht davon auszugehen, dass sie anderes im Sinne hatten.

„Sie sind nicht oft hier, ich habe Sie noch nie gesehen.“

„Ich bin gerade erst angekommen.“

„Wo waren Sie denn?“

„Weit.“

„Ich meine örtlich.“

„Natürlich. Die Stimme.“

„Die Stimme verrät Vieles aber nicht Alles.“

„Ihre Stimme sagt mir gar nichts. Sie könnten alt oder jung sein, eingeboren oder zugewandert, verbittert oder fröhlich, einzig ihr Frau-sein höre ich heraus. Und. Was Sie sagen.“

„Sie könnten sich umdrehen.“

„Mein Gehör, es ist nicht geübt, Stimmungen entwöhnt.“

„Ihre Stimme ebenso.“

„Ich mag ihre Stimme, gesichtslos und nahe.“

„Ich könnte mich beschreiben.“

„Machen Sie das nicht, bevor Sie gehen werde ich ihnen ins Gesicht schauen, auf jede Gefahr hin.“

„Charmant.“

„Sie missverstehen mich.“

„Ich weiss, belassen wir es beim Hören.“

Der Kehrwagen kam immer näher, übertönte jedes Geräusch, ein Gespräch unmöglich. Er stand auf um Platz für notwendige Reinigung zu machen, bedacht nicht zur anderen Seite zu sehen. Unwillig trat er von einem Bein auf das andere, begierig weiter zu hören, weiter zu sprechen. Endlich war die Headline, Gefahr verkündend, aufgehoben, sein Zugang wieder frei. Langsam verklang der motorisierte Besen, bis erneut Ruhe einkehrte auf dem Platz, seinem Platz.

„Gründlich und laut.“

Nichts von der anderen Seite. Die Straßenkehrer hatten ihre Arbeit vollendet. Seine Sitzposition, die selbe wie davor, jetzt unangenehm. Er ergab sich wieder seinen Gedanken, flüchtig und unbestimmt. Vereinzelt fuhren Autos vorüber, schlichen Menschen an den Fassaden entlang.

„Ihr Vorsatz, ich wollte Sie nicht in Gefahr bringen.“

„Die Gefahr entsorgt.“

„Ich habe Sie beobachtet.“

„Da haben Sie mir was voraus.“

„Ihre Entscheidung. Mein Vorsatz entspricht ihrem nicht, ich wusste schon wie sie aussehen bevor ich ihre Stimme gehört habe.

„Und trotzdem sprechen Sie zu mir?“

„Ihre Schuhe.“

„Meine Schuhe?“

„Ja, ihre Schuhe.“

„Stier, den Zwilling im Aszendent.“

„Sie tun gut daran ab zu warten.“

Ein Polizeiauto kam auf ihn zu gerollt, langsam ohne offensichtliche Zeichen eines Einsatzes. Es hielt vor ihm, das Fenster wurde herunter gelassen. Ein Polizist forderte ihn auf zum Wagen zu kommen, sich aus zu weisen. Er kam der Aufforderung wortlos nach, griff in seine Hosentasche, übergab seinen Reisepass, wartete die Überprüfung ab. Schweigend nahm er sein Dokument wieder an sich, nickte um die Bemerkungen über den Platz zu bestätigen, sah dem Polizeiwagen nach bis er auf der Straße war und beschleunigte.

„Sie haben Routine.“

„Angeblich ist das hier eine besorgniserregende Ecke.“

„Eine neuerliche Warnung?“

„Immerhin Sie haben mich nicht nochmals vor mir bewahrt.“

„Ihr Wort scheint ihnen viel Wert zu sein.“

„Ich lege es nicht in die Waagschale.“

„Das ist kein schlechter Platz.“

„Wollen wir gehen.“

Er stand auf, entbot ihr seinen Unterarm, spürte wie sie sich von hinten näherte und sich einhing. Ohne ein weiteres Wort gingen sie Seite an Seite in eine kleine Gasse, steuerten auf ein Haus mit grünem Einfahrtstor zu und hielten davor an.

„Ich will, dass Sie mich ansehen.“

„Das kann ich nicht, noch nicht.“

„Treten Sie einen Schritt zurück.“

Er ließ sie passieren, blickte die Gasse hinunter und hörte wie sie sich am Torschloss zu schaffen machte. Quietschend öffnete sich das Tor, sie trat ein, er folgte ihr nach.

„Sie müssen sich nicht sorgen.“

Das Licht wurde nicht eingeschaltet, sie blieb Silhouette. Drei Stockwerke nach oben, vier. Eine Stahltüre, er zog sie auf, starrte in einen dunklen Gang an dessen Ende eine matt erleuchtete Kammer war. Ohne abzuwarten durchschritt er den Gang, betrat die Kammer. Ein Fenster links, ein Stuhl, eine Matratze am Boden, ein Leintuch als Decke. Er zog seine Schuhe aus, band die Krawatte auf, das Sakko über die Sessellehne, sein Hemd faltete er sorgsam, ebenso die Hose und legte beides behutsam auf den Stuhl, entledigte sich seiner Unterhose. Er schaltete das Licht ab, blieb in der Mitte der Kammer stehen. Die Stahltüre fiel ins Schloss, Schritte den Gang entlang, ein Schatten kam auf ihn zu. Die Jalousien wurden aktiviert, glitten geräuschvoll herunter, Stockdunkelheit. Kleider raschelten auf den Boden, wieder Schritte, dumpfer das Geräusch dieses mal. Vorsichtig wurde er an der Hand genommen, zum Bett, der Matratze geführt. Zum ersten Mal nahm er ihren Geruch war, ein weiteres Mosaik. Sie blieben stehen, er atmete ruhig, sog sie ein in sich, ihre Hände auf seiner Brust.

Stehend zog er sie näher an sich heran, umschlang sie und sie ihn. Er lächelte.

„Seccessionistisch, farblos, unsichtbar.“

Keine Antwort, nur gleichmäßiger Atem, warme Haut an seiner. Lange verweilten sie in dieser Position, stimmten sich aufeinander ein, schwangen im selben Takt. Später, das Laken bereits durchgeschwitzt, der Puls wieder normal, die Dunkelheit immer noch absolut, lagen sie Rücken an Rücken.

„Wo waren Sie denn?“

„Jetzt bin ich hier.“

„Ja, jetzt sind Sie hier.“

Sie drehten sich zueinander, Angesicht zu Angesicht, nach wie vor unkenntlich.

„Gar nicht weit und doch aus der Welt.“

„Rückkehr?“

„Ein Versuch.“

Er schloss die Augen, fiel in einen traumlosen Schlaf.

„Ich habe Sie beobachtet.“

„Das sagten Sie schon. Habe ich lange geschlafen?“

„Sie haben im Schlaf gesprochen.“

„Ich sollte gehen.“

„Zehn, längstens fünfzehn Minuten, nicht sehr lange. Sie müssen nicht fort.“

„Der Weg an seinem Ende?“

„Jetzt sind Sie hier.“

„Ja, jetzt sind wir hier.“

„Sie haben über Grenzgänge gesprochen.“

„Ihre Haut fühlt sich sehr vertraut an, Sie fühlen sich sehr vertraut an.“

„Sie irren sich.“

„Jede Grenzüberschreitung ein weiterer Verlust.“

Er lauschte auf ihren Atem, sie war eingeschlafen. Als er erwachte brannte das Licht, von ihr keine Spur. An der Türe ein Zettel, „wir sehen uns“ war darauf in hastigen hingeworfenen Buchstaben zu lesen. Ein Irrtum und er wusste es. Die letzte Nacht, die letzte Nacht.

 

Zurück auf der Straße, es war bereits Mittag, die Sonne hell und unbarmherzig, von Abkühlung nichts zu merken, ordnete er seine Kleider. Dem Strahlen des Tages hatte er nichts entgegen zu setzen, langsam in gedrückter Stimmung wanderte er durch bekannte Gassen, aufmerksam wie beim ersten nun zum letzten Mal. „Sie müssen nicht fort“, wie verführerisch, wie verlogen, aufrichtig trotzdem. Er hatte sich nicht erklärt, war flüchtig geblieben. Den Zettel hatte er unkommentiert an der Türe zurück gelassen. Wie hätte er? Was hätte sie? Nichts von alle dem. Der Franz-Josef-Bahnhof in wenigen Minuten zu erreichen, der Schlüssel zu seinem Schliessfach sicher verwahrt.

 

Er war Teil gewesen. Für einen kurzen Moment Wir, entgrenzt. Prompt wieder dem Tatsächlichem, dem Eigentlichen, dem Natürlichem folge geleistet. Die Emotion eigen, nicht übertragbar, kein Wir, keine gemeinsame Empfindung. Borderline ein Krankheitsbild, sonst unüberbrückbar. Da wie dort entkommen ideel. Kopfsache, Sprachsache. Grenzgang, Sprachverlust. Kommunikation auf der anderen Seite unmöglich, mit der anderen Seite vage. Dort, da. Das Setting geändert, der eigene Saft, der eigene Saft. Gemeinschaftssinn. Wie mit, wie mit? Eindringen, aufnehmen, gemein. Austausch eher nicht. Glaskugeln für den Einen, Perlen für den Anderen. Wert, Bedeutung natürlich unbegreiflich. Andocken, ausbrechen, sein größter Wunsch, sein bestreben nicht übertragbar. Das Wir verortet bei den Anderen

 

Aus vorbei. Die Flucht, die Rückkehr misslungen. Kein Aufbäumen mehr. Akzeptanz. Sozialer Tod. Hygienischer Tod. Feindesland. Ein Narr war er zu glauben. Ein Narr war er zu hoffen. Ein Narr. Ein Narr, nicht mal verlacht. Auf wiedersehen Erde, ich kehre Heim.

 

ThRe, Juni 2015

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