ThRe Tipp:

Über Nationalismus

George Orwell, dtv Verlag München, 2020
ISBN: 978-3-423-14737-8

Liebes Publikum! Ich werde Sie Publikum nennen, auch wenn Sie mittelbar und unmittelbar Akteur sind, Ihrem Wissen und Gewissen hier in diesem Rahmen geschmeichelt wird. Ihr Gewissen, das Mit-Wissen, ein heimlicher Bund der Wissenden über, ja worüber eigentlich? Über Werte, Moral? Der Frage des Über werde ich mich später zuwenden, oder auch nie.

Sie liebes Publikum, die Sie eigentlich und natürlich Akteur sind, durch ihr Mitwissen den Rahmen, das Auszuzeichnende vorgeben, abstecken, Sie wollen sich bestätigt, geschmeichelt fühlen. Deswegen sind wir heute hier, deswegen gibt es diese Auszeichnung, deswegen sollte ich dankbar sein, deswegen sollte ich Ihre Geisteshaltung auch und vor allem an dieser Stelle fortführen. Ich werde Sie, liebes Publikum, fort führen, werde ihr Gewissen überführen, werde den Akteur ab führen.

Selbstverständlich, unausgesprochen sind Sie mir unbekannt, exponiert einzig durch ihre Anwesenheit hier und heute. Unkenntliches Publikum, kenntlicher Akteur, augenscheinlich mit Gewissen behaftet. Sie liebes Publikum, fortführender Akteur. Bestimmt. Gewissenhaft. Um Ihnen gerecht zu werden, im übrigen eine unauflösliche Aufgabe, bediene ich mich statistischer Mittel. Danksagend und wohlmeinend. Wahlergebnisse, wenigstens ein Stimmungsbarometer, lassen Rahmen und Richtung, Geisteshaltung und Mitwissen erahnen. Ihnen selbst, liebes Publikum - unbedingter Akteur, werden die Zahlen und Prozente der Wahlgänge der letzten 10 bis 20 Jahre erinnerlich sein. Danksagend und wohlmeinend unterstelle ich Verschiebung im rechten Spektrum, die absolute Meinungsführer_innenschaft wird davon nicht berührt. Die einen spektral, also gespenstisch heimlich abbildhaft weil verboten, die anderen offen huldigend, tradieren Sie, Werte-Akteur, Abgrenzung, Ausschluss, Einschluss. Ausländer_innenklassen, Besitzstandwahrer_innenschutz, gläserne Decken. Fortführen, nicht fort führen von patriarchalen, sozialdarwinistischen Irrungen, begründet im Kleinhirn. Das Alphamännchen alles, der Mensch nichts. Dauerhaft im selbst, Dauerhaft den Anderen. Mehrheitsfähig, jetzt und hier.

Das, liebes Publikum, natürlicher Akteur, sind wir, die Ausgezeichneten, angetreten an zu zeigen.

 

Das bedruckte T-Shirt feiert sein Comeback. Ein Artikel (1) vom 3. August 2015 in einem onLine Medium setzte mich vor Kurzem darüber in Kenntnis. Eine Information, die mit ein wenig Aufmerksamkeit in beinahe jeder Öffentlichkeit bestätigt werden kann. An und Für sich nicht erwähnenswert.

Das bemerkenswerte an jenem Artikel war die Illustration. Neben der Überschrift fand sich ein Bild. Zu sehen ein junger Mann in lässiger Pose. Ein blauer Schlapphut, Dreitagebart, eine Halskette, kurzes gelbes bedrucktes Beinkleid, das Shirt knallig rot. Der Aufdruck „Refugee“, inklusive Branding des „Kreativbüros“. Die Bildunterschrift „Dieses Shirt hat sich das Grafikbüro Vier5 ausgedacht.“ Der Artikel erzählt die Geschichte wie es zu Aufschriften auf T-Shirts kam, wer wann wie davon Gebrauch gemacht hat. Es werden banale verkaufsfördernde Argumente ins Treffen geführt, aber auch der „politische“ Einsatz von Text auf Textil thematisiert. Beispielhaft wird ein Shirt der Gruppe Femen angeführt. Zitat aus dem Artikel: „Heute ruft Femen via Merchandise-T-Shirt: Fuck Patriarchy!“ Nicht mal an der Oberfläche des Patriarchats gekratzt, Wirkmechanismen fortgeführt. Abgeschlossen wird der Text folgendermaßen: „Und das Grafikbüro Vier5, das einst den Auftritt der documenta 12 gestaltete, macht nebenher auch simple Männermode-Stücke: bunte Shorts, T-Shirts, Kimono-Jacken. Brandaktueller Schriftzug auf einem der Shirts: "Refugee" . Das sagt viel. Und auch wieder nichts. Und passt gut in eine Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne bis zum nächsten Klick reicht.“.

Mein erster Eindruck, Fassungslosigkeit. Ja, ein Artikel über Mode, da ist tiefgreifendes gesellschaftliches Verstehen nicht vorauszusetzen. Warum eigentlich? Der zweite Eindruck, mehr ein hoffen, ich habe das falsch gelesen. Beim zweiten und dritten Lesen fallen mir Sätze wie „Für den Kunden funktioniert es als günstiges Einstiegsprodukt in eine Markenwelt, für ein Unternehmen bedeutet das bedruckte Stück Baumwolle eine hohe Gewinnspanne“ oder „Überhaupt sei vielen Labels gemein, dass sie nicht aus dem Modebereich, sondern oft urbanen Subkultur-Szenen, also Skate, Punk, Hip-Hop, entsprängen, so Michael Paul. Oder eben gleich von Grafikdesignern betrieben werden.“ auf.

Warum erzähle ich Ihnen davon? Sie werden es ahnen. Flüchtlinge, geflutet im Mittelmeer, durch Stigmata überfremdet, schutzbefohlen im Stich gelassen. Ja liebes Publikum, gewissenhafter Akteur, Barmherzigkeit, initiative Zivilgesellschaft stehen auch in diesem Land Hetze, Mordaufruf entgegen, sehr wahrscheinlich mehrheitlich in diesem Raum. Nur, Barmherzigkeit löst nichts, Barmherzigkeit übertüncht das Hässliche, Barmherzigkeit degeneriert zur Perversion.

Brandaktueller Schriftzug auf einem der Shirts: "Refugee" . Das sagt viel. Und auch wieder nichts.“ Wie ist das „viel“ zu verstehen? Was das „Nichts“? Flüchtlinge, ein brennendes Thema, ausgestellt auf einem T-Shirt, lässt Solidarität vermuten, der Verweis auf „das Grafikbüro Vier5, das einst den Auftritt der documenta 12 gestaltete“ verführt in Wohlfühlsphären der Hochkultur, bringt Werte, Kultiviertheit ins Spiel. Dank „sondern oft urbanen Subkultur-Szenen, also Skate, Punk, Hip-Hop, entsprängen“ erscheint der „Brandaktuelle[r] Schriftzug auf einem der Shirts: "Refugee" .“ moralisch. Legitimiert, weil eben nicht von Konzernen. Ein Trick. Ein Trick um Ihren Wertvorstellungen und Ihrer Moralität Glaubwürdigkeit zu verleihen, liebes Publikum, abendländischer Akteur. Ihrer Gewissheit, Ihrem Selbstverständnis ist genüge getan. Das „Nichts“ geht Sie nichts mehr an. Woher der Wind weht, wohin die Reise geht, eindeutig mit „ für ein Unternehmen bedeutet das bedruckte Stück Baumwolle eine hohe Gewinnspanne“ festgelegt. Der Wind aus dem Norden, das Ziel vom Kapitalismus, von kapitalistischen Interessen verheerte Orte. Flüchtlinge Vehikel, denn „ Für den Kunden funktioniert es als günstiges Einstiegsprodukt in eine Markenwelt“. Das „viele“ für Sie, liebes Publikum, das „Nichts“ denen die nichts sind, die nichts haben, die nicht Sie sind.

Schrecklich genug, doch dieser Artikel hält noch eine weitere Pointe bereit, eine weitere wohligwarme Rechtfertigung, eine perfide Schweinerei zur Aufrechterhaltung des Status Quo einer auf Ausbeutung und Unterdrückung basierten Gesellschaft. Seien Sie stark, liebes Publikum, antifeministischer Akteur. Sie erinnern sich? „Heute ruft Femen via Merchandise-T-Shirt: Fuck Patriarchy!“ Subtil? Keine Sekunde. Ein T-Shirt, von der Produktion bis zum Verkauf, Frauensache. Genäht von ausgebeuteten Frauen, unter Bedingungen die jeder Ihrer moralischen Sicherheiten, liebes Publikum, Hohn spotten. Einstürzende Fabriken, verbrannte Näherinnen, auch in diesem Fall nur „Nichts“. Verkauft von Frauen, denen bis zu 1/3 Lohnunterschied zu ihren männlichen „Kollegen“ als persönliches „Verhandlungsunvermögen“ um die Ohren gedroschen werden, auch in diesem Land. Doch was scherrt uns das, liebes Publikum, konsumistischer Akteur. Die Beruhigungspille, vorausblickend, in voller Empathie mit Ihnen, liebes Publikum, mitgeliefert. „Heute ruft Femen via Merchandise-T-Shirt: Fuck Patriarchy!“ Selbst Feministinnen, entsolidarisiert. Und dann noch solche! Sie wissen schon, das sind die mit den nackten Brüsten, die auf Tische klettern, in Kirchen für Unruhe sorgen, streiten und sowieso fragwürdig sind. Keine Zeuginnen der Anklage. Mitwisserinnen. Auch nur auf ihre 15 Minuten Ruhm aus. Gewissheit, Ihre Gewissheit liebes Publikum. Feminismus, Frauenrechte von hysterischen Nackerten mit Geltungsdrang, ohne realer Entsprechung, versteht sich. Es geht uns doch gut.

Liebes Publikum, Egomanen-Akteur, Ihr Gewissen, Sie mögen es Moral, Wertvorstellung, in seltenen Fällen Nächstenliebe nennen, überführt. Ihre Moral, ein blutbeflecktes, durch Leid verfertigtes T-Shirt, schamhaft versteckt hinter „Feel-Good“ Slogans, von „documenta 12“ Gestaltern „ausgedacht“. Die Seele, den Mensch in Ihnen bestärkt. Sie gehören zu den Guten. Die Gewinnspanne auch Ihnen.

 

Sie, liebes Publikum, selbstgerechter Akteur, in Ihren Gewissheiten, Ihrer Selbstherrlichkeit, überführt. Ihr Großmut, im besten Fall zynisch

 

(1) http://derstandard.at/2000019856971/SMS-auf-Baumwolle-Comeback-der-Leiberl-mit-Grafikprints

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